Storytelling und D&D

Unlängst wurde im Tanelorn mal wieder über Matt Mercer und Critical Role gesprochen. Dabei wurden zwei interessante Links geteilt, die mich zu diesem Beitrag veranlassen:

Fandom Uncovered: Dungeons & Dragons (YouTube)

Roll20 Statistik Q2 2019

Der erste Link lässt nicht nur das Rollenspielerherz stolz höher schlagen, was alleine schon Grund genug ist, sich die 30 Minuten mal anzuschauen. Sondern es ist auch auffällig, dass sämtliche zu Wort kommenden “Promis” einhellig auf die Frage, was denn besonders an Rollenspiel sei bzw. warum sie das spielen, den Aspekt “Storytelling” an erster Stelle hervorheben. Und die meisten sind eben D&D-Spieler bzw. DMs, wie ja auch Klassenprimus Matt Mercer. (Wer nicht weiß, wer Matt ist und welchen krassen Erfolg sein Streaming-Format Critical Role hat, kriegt dazu ebenfalls die wichtigen Infos im Video.)

Der zweite Link zeigt die Marktdominanz von D&D: Auf Roll20 waren in Q2 2019 51,9 % der Kampagnen D&D 5E, und weitere 6,5 % Pathfinder (Nr. 3 nach CoC). In Deutschland sieht es sicherlich noch mal ein bisschen anders aus, aber der US-Markt hat schließlich eine große Strahlkraft und Critical Role hat ja auch in Deutschland viele Fans. Ich möchte mich hier einmal an einer Interpretation versuchen, auch wenn dies notgedrungen ein bisschen ein Schuss ins Blaue ist.

1. Wargaming Style kommt nicht zurück

Unbeschadet kleiner gallischer Dörfer scheint mir die Schnittmenge von Wargaming und D&D oder gar Rollenspiel im Allgemeinen heutzutage vernachlässigbar. Das Wargaming-Mindset, das aus OD&D und AD&D noch herauszulesen ist, spielt weder bei Pathfinder noch bei 5E eine entscheidende Rolle. Das mag man, je nach Neigung, ggf. beklagen, aber zumindest die Roll20-Zahlen legen nahe, dass Wargaming-mäßiges Rollenspiel heute eine winzige Nische innerhalb des großen Hobbys darstellt. Die alten (A)D&D-Editionen und auch OSR-Titel spielen dort bei den Kampagnen nur eine marginale Rolle.

D&D geht heute einen anderen Weg. Allem Vernehmen nach ist dieser Weg kommerziell überaus erfolgreich und führt ganz nebenbei dazu, dass das Hobby mediale Aufmerksamkeit und sogar gesellschaftliches Ansehen erfährt wie nie zuvor. Es ist das zweite “Golden Age”, und ebenso wie das erste “Golden Age” Ende der 80er / Anfang der 90er glänzt es nicht durch eine Hinwendung zu den Ursprüngen, im Gegenteil. Die historischen Ursprünge des Hobbys vor 45 Jahren (!) dürften dem Durchschnittsspieler von heute furzegal sein, und das ist auch völlig legitim. Es darf bezweifelt werden, dass die heutige Rollenspielwelt nur darauf gewartet hat, endlich Wargaming-mäßig erleuchtet zu werden.

2. Story Games sind nicht die nächste Evolutionsstufe

Story Games mögen als Prototypen oder Konzeptstudien hier und da die Entwicklung des Hobbys als Ganzes beeinflusst haben, aber 20 Jahre nach Sorcerer und 10 Jahre nach Apocalypse World bleiben sie ebenso marginal wie die OSR. Indessen spielen die Leute unbekümmert 5E und feiern Matt Mercer als den perfekten DM. Die alte Forge-Doktrin von GNS und Inkohärenz interessiert sie dabei herzlich wenig. D&D ist fetziger geworden, jugendlicher, cinematischer, aber Miniaturenspiel und Kampftaktik, Charakterbau und Level-Up, Ausrüstung und Beute haben nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Dies sind die über alle Maßen erfolgreichen Kassenschlager von D&D, die die gesamte Videospielbranche nachhaltig geprägt haben. Das ist das Spiel, das wollen die (allermeisten) Leute spielen. Klar, die Marktdominanz und Bekanntheit von D&D an sich erzeugt schon eine Menge Gravitation. Aber sowohl die medialen Beiträge als auch die Anekdoten aus dem persönlichen Umfeld, die ich kenne, deuten alle darauf hin, dass die Leute 5E echt abfeiern.

Als ich das erste Mal ein Abenteuer-Spielbuch von Ian Livingstone aufschlug, waren es die immersive Fantasy-Geschichte und das Spiel, die mich faszinierten. Das Spiel ging um Erfolg und Misserfolg, Leben und Tod. Es interagierte mit der Geschichte, aber sie waren nicht deckungsgleich. Der Ansatz der Forger und Story Gamer, hier einen schädlichen Widerspruch zu erblicken und beides in Einklang bringen, kohärent machen zu wollen, hat sich nicht durchgesetzt und wird sich auch nicht durchsetzen. Story Games sind ja nicht schwer zu finden, ihre Fangemeinde ist ja online sehr laut und umtriebig (ebenso wie die der OSR). Aber die Roll20-Zahlen rücken den ganzen TamTam in eine deutliche Perspektive.

3. Hätten Sie gerne eine Portion Story zu Ihrem D&D? 

Spätestens zu 3E-Zeiten wurde anhand der Adventure Paths das Prinzip “mit der Eisenbahn zum Dungeon-Eingang” hoffähig gemacht, das ist ja längst ausgewertet. Bei Critical Role kann man ebenso das Skript im Einsatz beobachten. “Zwischen Kämpfen” wird erzählerisch gespielt. Matt ist dabei in der Lage, aufzugreifen und einzuweben, was die Spieler tun und was die Würfel sagen. Er ist großzügig, aber er lässt nicht jeden Schwachsinn durchgehen. Das ist das Handwerkszeug eines guten erzählerischen Spielleiters. (Nur die Monologe sind zu lang.) Zugleich wird das In-Character-Spiel sehr stark betont. Slapstick und generell Humor wie auch Popkultur-Referenzen stehen bei den Spielern hoch im Kurs, der DM aber nimmt seine Welt und das Spiel durchaus ernst.

Man darf wohl davon ausgehen, dass Critical Role nicht nur wegen der Voice-Acting-Qualitäten der Darsteller so beliebt ist, sondern auch deswegen, weil sich die Zuschauer mit dieser Art zu spielen identifizieren können. Das legt den Schluss nahe, dass, wenn man die dem Format geschuldeten Eigenheiten herausfiltert, Critical Role schon dem nahe kommt, wie der heutige Mainstream sich eine gute D&D-Runde vorstellt. Ich fühle mich dabei stark an Joels D&D-Runde in Weregeek erinnert (die übrigens seit 3E-Zeiten existiert).

Und die DM-Tipps auf YouTube zeigen: Die Leute wollen wissen, wie sie ihre SCs interessanter ausgestalten können, wie sie in Darstellung und Beschreibung besser werden können, wie sie es schaffen, dass ihre Plots spannend und packend und glaubwürdig sind, wie sie ihr Pacing verbessern können, mit welchen erzählerischen Kniffen sie ihre D&D-Kampagne aufpeppen können. Und sie wollen D&D spielen. Ich halte es für fernliegend, davon auszugehen, dass die einfach nur alle zu doof sind. Die wollen das so, das haben wir zur Kenntnis zu nehmen.

4. Was folgt nun daraus?

Für mich folgt daraus, den eigenen Missionierungseifer zu abseitigen Spielen zu bremsen und wenn möglich eher allgemeingültige Tipps zu geben, die für einen Wannabe-Mercer-5E-DM von Nutzen sind. Außerdem werde ich noch mal darüber nachdenken, D&D 5E eine Chance zu geben. Und kurzfristiger werde ich, auch ohne 5E, auf dem nächsten Tanelorn-Treffen eine Runde mit epischem Drama und epischem Mini-Schubsen anbieten, mit fachkundiger Unterstützung.

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Drama-Fu (Drachen-Stil)

Drama-Fu? Was soll das denn sein?

Ausgangspunkt war die Feststellung, dass man in Rollenspiel-Diskussionen verdammt oft aneinander vorbei redet, weil man fälschlich unterstellt, der Gegenüber hätte einen ähnlichen Erfahrungshorizont wie man selbst. Dies veranlasste den Hofrat zu der Aussage, es müsste Gürtelfarben fürs Rollenspiel geben. Ein Wort gab das andere, und die erste Schule ward begründet. Das ist nicht nur witzig, sondern erlaubt auf spielerische Weise, tatsächlich eine ganze Menge über die Erfahrungshorizonte und Herangehensweisen der Gesprächspartner zu erfahren. Und ganz nebenbei ein bisschen anzugeben. Dafür bin ich natürlich immer zu haben, deswegen habe ich meine eigene Schule ins Leben gerufen. Andere Schulen bisher:

Pyro-Fu
Prussien Jeux-Jitsu
Des fröhlichen Orcs holistische Rollo-Lehre
Ghoulu Jitsu

Gründungslegende

Sifu Vermi studierte zunächst kurz die Lehren des Meister Gygax, konnte diesen jedoch nichts abgewinnen. Also erlernte er im Selbststudium das Drama-Fu, hauptsächlich nach den Schriften des Meister Costyk. Später studierte er auch die Lehren des Kiesow und des (Dot)Hagen. Im entlegenen Bergkloster Hessenstein trainierte er mit anderen Studenten des Drama-Fu wie 8t88 oder Joerg.D. Sodann begab er sich auf eine lange Reise voller Kämpfe und Entbehrungen, folgte falschen Propheten und verlor seinen Weg. Der Legende zufolge fand er ihn wieder, als er eines Tages die Balz zweier roter Drachen beobachtete. In diesem schrecklichen Kräftemesse, das doch sodann, dem Urtrieb folgend, in der Vereinigung selbiger Kräfte kulminierte, diesem wilden Tanz, der jeder Berechnung spottete und der doch einem spürbaren Rhythmus folgte, erblickte der Sifu das perfekte Sinnbild seiner Kunst. So kehrte er aus der Wildnis zurück und begründete den Drachen-Stil.

Kanon

Zu den Lehren des Sifu gehört es, das Rad nicht neu zu erfinden, wenn es nicht nötig ist. Daher ruht auch das Drama-Fu auf drei Säulen:

  • Säule der Cinematik: Star Wars d6, Feng Shui, Liquid, Cinematic Unisystem, One Roll Engine, Savage Worlds, Dread, Cortex+, PDQ, Danger Zone u.a.
  • Säule der Persönlichkeit: Pendragon, World of Darkness, Hero Quest, Unknown Armies, The Riddle of Steel, Burning Wheel, The Shadow of Yesterday / Solar System u.a.
  • Säule der Freiheit: Freeform, Daidalos, The Window, The Pool, Risus u.a.

Eine Sonderrolle nimmt Fate ein, das je nach Variante und Gewichtung zu jeder der Säulen gehören kann. Nicht zum Kanon gehören hingegen spielleiterlose Spiele oder andere thematische Spiele wie WuShu, pbtA oder die meisten Forge-Spiele der 2. Generation und später. Ihr Studium wird dennoch empfohlen, um den Horizont des Schülers zu erweitern.

Prüfungen

Gelber Gürtel

  • Du hast einen SC oder NSC mit wiedererkennbarer Persönlichkeit gespielt, die sich von deiner eigenen unterscheidet.
  • Du hast einen Dialog , in dem deine Spielfigur etwas von einer anderen Spielfigur erreichen wollte, in wörtlicher Rede mit den Worten deiner Spielfigur geführt.
  • Du hast zur Vorbereitung einer Spielrunde Aufzeichnungen gemacht.
  • Du hast ein Spiel aus dem Kanon des Drama-Fu gespielt.
  • Du hast einen Roman mehrfach gelesen oder einen Film mehrfach gesehen.

Orangener Gürtel

  • Du hast eine Vorgeschichte für deinen SC oder ein Rundentagebuch geschrieben.
  • Du hast deine Stimmlage zur Darstellung einer Spielfigur verändert oder mit künstlichem Akzent gesprochen.
  • Du hast ein Kaufabenteuer geleitet.
  • Du hast je ein Spiel aus jeder Säule des Drama-Fu mindestens einmal gespielt und hast seinen Grundmechanismus und dessen Funktionsweise verstanden.
  • Du hast einen Roman so oft gelesen oder einen Film so oft gesehen, dass du auswendig daraus zitieren kannst.

Grüner Gürtel

  • Du hast eine Spielfigur in einer solchen Weise verkörpert, dass die Mitspieler starke Emotionen (Bewunderung, Mitleid, Abscheu o.ä.) für diese Spielfigur empfanden.
  • Du hast eine dynamische Szene plastisch beschrieben, sodass deine Mitspieler davon mitgerissen waren und gleichzeitig die Informationen bekamen, die sie für das Handeln ihrer Figur benötigten. 
  • Du hast ein komplett selbst geschriebenes Abenteuer geleitet, das auf die Hintergründe der SCs und die Interessen der Spieler maßgeschneidert war.
  • Du hast mindestens 50 Sitzungen mit Spielen aus dem Kanon des Drama-Fu gespielt.
  • Du hast eine Serie mit mehreren Staffeln vollständig gesehen. Du hast eine Buchreihe, länger als eine Trilogie, vollständig gelesen. Du hast ernsthaft und fundiert mit anderen über die Stärken und Schwächen von Filmen, Büchern und Serien diskutiert.

Violetter Gürtel

  • Du hast in Abstimmung mit deiner Gruppe einen Spielercharakter entworfen, der bereits zu Spielbeginn über Beziehungen zu anderen SCs und NSCs, über persönliche Konflikte oder offene Fragen verfügte, wobei all dies gezielt darauf ausgerichtet war, im späteren Spiel dramatisch zugespitzt und aufgelöst zu werden. Du hast all dies schriftlich auf weniger als einer A4-Seite zusammengefasst. Du hast diesen Charakter erfolgreich im Spiel verkörpert.
  • Du hast als Spielleiter eine Kampagne geleitet, in deren Verlauf mehrere Spielercharaktere eine erkennbare Persönlichkeitsentwicklung durchlebt haben, zu der du als SL gezielt Gelegenheiten geschaffen hast.
  • Du hast am Spieltisch deinen geplanten Plot komplett umgeschmissen und bist mit dem Flow gegangen.
  • Du hast Rollenspiele ernsthaft gespielt und gelesen, die nicht zum Kanon des Drama-Fu gehören. Du hast mehr als einmal irgendeine Form von D&D, irgendeine Form von DSA und irgendein Forge-Spiel / Story Game gespielt.
  • Du hast selbst, zum Spaß, Prosa geschrieben, mindestens 100 Seiten.

Blauer Gürtel

  • Du hast freiwillig, also ohne durch die Regeln oder die Umstände dazu gezwungen zu sein, den Tod deines Spielercharakters gewählt, weil es sich einfach richtig anfühlte.
  • Du hast als Spielleiter eine Sitzung zu einem geskripteten “großen Finale” gerailroadet, ohne daraus ein Hehl zu machen, und alle fanden es super.
  • Du hast einen kompletten Kampagnenhintergrund selbst entwickelt, der auf die Hintergründe der SCs und die Interessen der Spieler maßgeschneidert war. Du hast dabei Wünsche der Spieler mit aufgenommen oder von Spielern geschaffenes Material eingearbeitet.
  • Du hast folgende Formen mindestens 1x bis zu ihrem Abschluss gespielt: LIRP oder LARP, Jeepform oder Impro, textbasiertes Rollenspiel (Forum, Email etc.)
  • Du hast Fachliteratur über den dramaturgischen Aufbau einer Handlung in Buch oder Film studiert und die gewonnenen Erkenntnisse auf das Rollenspiel angewendet.

Brauner Gürtel

  • Du hast als Spieler auf Spotlight verzichtet und gezielt so gespielt, dass dadurch das dramatische Potential eines anderen Spielercharakters voll ausgeschöpft werden konnte, zur Begeisterung des Spielers dieses Charakters.
  • Du hast eine Spielrunde geleitet, in der die Spielercharaktere ernsthaft gegeneinander arbeiteten, bis hin zur Möglichkeit, dass ein SC den anderen tötet, ohne dass dies von den Beteiligten als Wettbewerb empfunden wurde und ohne dass jemand sich ungerecht behandelt fühlte.
  • Du hast eine einzelne Spielrunde so intensiv vorbereitet, dass du zu jedem wichtigen NSC und Schauplatz ausführliche Aufzeichnungen und Bilder hattest, mögliche Handlungsverläufe sorgfältig durchdacht und ausgearbeitet hattest, und Handouts und eine Playlist für die Runde zusammengestellt hattest.
  • Du hast mindestens 200 Sitzungen mit Spielen aus dem Kanon des Drama-Fu gespielt, darunter jeweils mindestens drei Spiele aus jeder der Säulen. Du hast dabei mindestens eine Buch-, Film- oder Serienvorlage selbst fürs Rollenspiel adaptiert.
  • Du hast eine selbst geschriebene Prosa abgeschlossen und so weit redigiert, dass du sie einem größeren Kreis von Personen gezeigt hast.

Schwarzer Gürtel

  • Du warst durch das Rollenspiel so bewegt, dass du am Spieltisch offen geweint hast, gemeinsam mit mindestens einem weiteren Mitspieler.
  • Du hast eine Drama-Spielrunde geleitet, die alle anderen überstrahlt, intensiv, mit perfektem Flow, von der die Mitspieler auch Jahre später noch mit leuchtenden Augen erzählen.
  • Du hast zur Vorbereitung einer Runde eine komplette Filmreihe oder Serie mit mehreren Staffeln geschaut oder eine komplette Buchreihe gelesen und umfangreiche Notizen dazu gemacht.
  • Du hast Rollenspiele aus dem Kanon des Drama-Fu mit mindestens 50 verschiedenen Personen gespielt, darunter mit Fremden auf Cons, mit kompletten Anfängern, und mit Personen, die mit Drama-Fu nichts anfangen konnten.
  • Von dir geschriebene Prosa kann oder konnte man im Buchhandel erwerben.

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