Turku Manifesto, Immersion und BDSM

Was haben das Turku Manifesto und BDSM gemeinsam? Ha, wenn das mal kein Clickbait ist! Ich denke schon eine ganze Weile daran herum, aber es ist nicht so leicht, mich dem zu nähern. Zunächst: Das Manifesto ist ein launiger Text, der provokant sein will und auch ist. Ich verstehe es als einen respektablen Diskursbeitrag, und ich halte es, bezogen auf Tischrollenspiel, überwiegend für falsch.

Turku denkt Rollenspiel vom LARP her

Das Manifesto geht auf LARP und Table Top gleichermaßen ein, aber soweit ich weiß, kommt die Turku School ursprünglich aus dem Nordic LARP. Zwischen den Zeilen des Manifesto kann man schon herauslesen, dass der Autor das LARP für die ausdrucksstärkere Form hält, und Table Top nur dann in Erwägung zieht, wenn die Inhalte im LARP nicht vernünftig dargestellt werden können. Der Begriff der Immersion hat seinen Ursprung daher zunächst im LARP, und ist in diesem Kontext zu bewerten. Dies wurde in der Debatte um Immersion in Tischrollenspielen versäumt, und das hat für viel Verwirrung gesorgt.

Going Under oder was LARP und BDSM gemeinsam haben (können)

Vor Jahren habe ich einen Blog-Artikel aus der BDSM-Szene gelesen, den ich leider nicht mehr finde, in dem unter dem Stichwort “Going Under” das ultimative Ziel des Subs in einer BDSM-Session beschrieben wurde: Das völlige Abtauchen in der Schein-Realität des BDSM-Plays, sodass es gelingt, diese als real zu erleben, bis hin zur entsprechenden körperlichen Reaktion, Ausschüttung der entsprechenden Botenstoffe etc. Dies ist nur möglich, indem die Kontrolle vollkommen an den Top abgegeben wird. Daraus folgt, dass der Top die komplette Verantwortung für das Play trägt, und die Sicherheit und das Wohlbefinden des Subs gewährleistet. Es muss sehr viel im Vorwege besprochen und kommuniziert werden, damit der Top die individuellen Wünsche und Grenzen des Subs versteht, und es muss ein Safeword o.ä. vereinbart werden, um einen Abbruch zu ermöglichen, wenn der Sub sich nicht mehr wohl fühlt. Die Vorurteile über “Sadisten” haben daher nicht das geringste mit dem zu tun, was ein guter Top ist und tut.

Wenn man sich Abschnitt V. des Manifesto, “The absolute rule of the game master”, zu Gemüte führt, lassen sich hier gewisse Parallelen ausmachen, wobei leider versäumt wird, auf die große Verantwortung hinzuweisen, die dies für den GM bedeutet. Und da, wo LARP versucht, so viel wie möglich real nachzubilden und darzustellen, statt zu erzählen und der Vorstellungskraft zu überlassen; da, wo LARPer von Erlebnissen berichten, in denen sie buchstäblich als ihr Charakter dachten und fühlten, mag man sich vorstellen, dass ein äquivalentes “Going Under” stattfinden kann. Vgl. den LARPer’s Vow of Chastity der Turkus. So etwas ist nichts für die wöchentliche Game Night, das bedarf aufwendiger Vorbereitung und auch Ausstattung. Und mir stellt sich spontan die Frage: haben LARPer eigentlich Safewords, und wenn nicht, sollten sie welche haben?

Übertragbarkeit aufs Tischrollenspiel: fraglich

Hier ist also eine erste Erkenntnis: Von sowas könnten LARPer reden, wenn sie Immersion sagen. Wenn du wirklich nachts in einem Gebüsch versteckt liegst, in einem unbequemen Kettenhemd, frierst, hungrig bist, und dich mucksmäuschenstill verhalten musst, weil gerade eine feindliche Patrouille drei Meter von dir entfernt den Wald durchkämmt (so das Beispiel, das mir mal jemand aus seiner persönlichen Erfahrung berichtete), dann geht dir ganz real der Arsch auf Grundeis. Und das ist was vollkommen anderes, als die gleiche Situation im heimischen Wohnzimmer zu verhandeln.

Kann man in einem Tischrollenspiel vergleichbar in eine Situation abtauchen, sich so fallen lassen, die Schein-Realität so als echte Realität erleben? Ich behaupte von mir, am Tisch schon sehr intensive Runden gespielt zu haben. Es wurden schon echte Tränen geweint, Hunde haben schon den Spielleiter angeknurrt, weil sie ihre Herrchen beschützen wollten. Aber ich würde mir nicht anmaßen, das mit dem genannten LARP-Beispiel vergleichen zu wollen. Und ich kenne auch niemanden, der das tut. Insofern wäre meine Schlussfolgerung, dass Tischrollenspieler überhaupt nie den Begriff der Immersion aus dem LARP hätten übertragen sollen, da er für etwas steht, das überhaupt nur in bestimmten Formen des LARP möglich ist. Nur: die Turku School nimmt diese Übertragung ja selbst vor, und das ist auch der Punkt, an dem sie auf Sand gebaut hat.

Ich bleibe dabei, dass die Berichte über Immersion im Tischrollenspiel sich eigentlich nur auf Flow beziehen, gepaart mit einer von den Beteiligten in dem Moment als besonders packend empfundenen Fiktion. Mit “Going Under” hat das nichts zu tun.

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