Judith Vogt, Mitherausgeberin und Mitautorin von Roll Inclusive und Co-Gastgeberin des Genderswapped-Podcast, hat in diesem Artikel auf Feminismus oder Schlägerei etwas geschrieben, das so oder ähnlich auch in Roll Inclusive gesagt wird, und mit dem ich mich heute beschäftigen möchte:
“Wir müssen auch einen Blick in die Regeln des Spiels werfen. Wieviel postkoloniales, hierarchisches, kapitalistisches, patriarchales Gedankengut transportieren sie? Wie sehr geht es darin um Ressourcen, um Leistung, um Profit aus Ausbeutung anderer (und wenn es nur Orks und Dungeonbewohnende sind)? Wie können wir das ändern? Wie können wir das Schwarz-Weiß-Denken aus den Regeln nehmen?”
Ich verstehe Judith so, dass “Regeln” eher weit zu interpretieren ist, also nicht nur Würfelmechanismen, sondern das gesamte Spielprinzip und alles, was im Regelwerk steht. Und natürlich soll die Aussage erst recht auch für das Setting gelten. Ich denke, es lohnt sich, da etwas näher hinzusehen, insbesondere aus dem Blickwinkel der Mutter aller Rollenspiele: D&D.
1. Herr Ober, da ist Antikapitalismus in meiner Diversity!
Wer überzeugter Anhänger einer linken Ideologie ist, für den gehören ungleiche Machtverhältnisse und Kapitalismus untrennbar zusammen. Ich habe einige Sympathie für diese Sichtweise, finde es aber trotzdem falsch, bei einem Projekt wie Roll Inclusive diese Bezüge herzustellen. Denn das schränkt die Zielgruppe ein und läuft Gefahr, viele mögliche Verbündete, die zwar Diversität gut finden, Kommunismus aber nicht, zu verprellen. Wir dürften uns wohl alle einig sein, dass die Überwindung des Kapitalismus nicht unmittelbar bevorsteht, zumal niemand ein wirklich zeitgemäßes Rezept hat, wie diese Überwindung denn von Statten gehen soll. Insofern scheint es mir aus pragmatischer Sicht unklug, alles auf die Karte der Weltrevolution zu setzen.
Zur Begrifflichkeit: Judith nennt Ressourcen, Leistung, Profit und Ausbeutung als Beispiele, in Roll Inclusive ist an anderer Stelle von Verwertungslogik die Rede. Es sollte aber jedem, der mit dem Begriff Kapitalismus um sich wirft, klar sein, dass Kapital etwas anderes ist als Geld oder Privateigentum. Ich bin bestimmt kein großer Marx-Kenner, aber dafür reicht es bei mir noch. Charaktere, die auf Beutezug gehen und Goldmünzen anhäufen, sind dadurch noch keine Kapitalisten. Das pseudo-europäisch-mittelalterliche Feudalsystem der gängigen Fantasy-Settings ist allenfalls merkantilistisch. Ausbeutung und Verwertungslogik erfolgt in diesem Kontext durch den Feudalherren und den Klerus. Insofern ist dies durch “hierarchisch” und meinetwegen “patriarchalisch” abgedeckt, “kapitalistisch” ist eigentlich über.
Nun könnte man natürlich annehmen, dass die Kapitalismuskritik stattdessen auf den Rollenspielverlag und dessen Verwertungslogik abzielt. Ggf. würden Wizards of the Coast sogar als Kapitalisten durchgehen, wohingegen die allermeisten Rollenspielverlage dafür viel zu klein und unprofitabel sind. Doch selbst wenn nicht, selbst wenn Rollenspielverlage ähnlich mächtig wären wie andere Unternehmen, die ihren Profit mit phantastischen Welten machen, etwa Games Workshop, Blizzard Entertainment oder Walt Disney: Was bringt es denn, Verwertungslogik fundamental zu kritisieren? Wo soll das hinführen, Boykott? Da Roll Inclusive selbst für Geld bei einem Rollenspielverlag vertrieben wird, nehme ich nicht an, dass dies die Intention ist. Und ist es nicht auch viel zielführender, Unternehmen im Rahmen ihrer Spielregeln zu Verbündeten beim Thema Diversity zu machen? Was aber soll dann das antikapitalistische Name Dropping? Zudem: Man kann dem Kapitalismus amerikanischer Prägung vieles nachsagen, aber nicht, dass er nicht gute Unterhaltung produzieren würde.
2. Story Games sind wie feministische Pornos
Beispiele dafür, wie man es anders, besser, machen könne, nennt sowohl Judiths Artikel als auch Roll Inclusive einige, die allermeisten davon sind sehr eng fokussierte Story Games wie Steal Away Jordan oder Bluebeard’s Bride, bestenfalls noch Monsterhearts oder Harlem Unbound. Besonders erstere ließen mich an diesen Essay denken, in dem die Autorin anekdotisch darüber berichtet, dass sie selbst und alle anderen Frauen, mit denen sie darüber gesprochen hat, keine feministischen Pornos schauen, sondern “böse”, unemanzipierte Mainstream-Pornos, mit Male Gaze und allem, was sonst noch so dazu gehört. Nun will ich keine Lanze für den Mainstream-Porno brechen, ich bin selbst kein Fan. Diese Anekdote führt jedoch zu einer interessanten philosophischen Frage.
Wenn ich von einem Medium etwas bestimmtes will, also von einem Porno z.B., dass er mich scharf macht, oder von einem Rollenspiel, dass es mich der Realität entfliehen lässt, dann hängt der Erfolg eines bestimmten Pornos bzw. Rollenspiels von meiner persönlichen Neigung ab, die ich nicht rational steuern kann. Bin ich daher dafür verantwortlich, wenn meine Neigung in eine Richtung geht, die nicht mit meinem politischen Reinheitsempfinden übereinstimmt? Sollte ich politischen Dogmatismus über meine Neigung stellen und wenn ja, wo führt das hin? Ist nicht die reflektierte Entscheidung, der Neigung zu folgen, auch ein möglicher Ausdruck von Freiheit und Emanzipation? Egal welche Prägung die Neigung ggf. ursprünglich geformt haben mag? Gerade in bezug auf den Feminismus scheint es mir geradezu zynisch, dass einige Feministen den Frauen diese Freiheit absprechen wollen, nachdem die zweite Welle doch auch und gerade für die sexuelle Befreiung gekämpft hat.
Nun heißt das nicht, dass alle so ticken wie die Autorin des verlinkten Porno-Essays. Bestimmt gibt es auch Leute, die feministische Pornos viel schärfer finden als alles andere, oder sogar Leute, die Pornos aus anderen Gründen gucken, als um davon scharf zu werden. Wohl weiß ich, dass es Leute gibt, die total gerne gesellschaftskritische Story Games spielen, ob mit oder ohne eskapistisches Element. Ich selber spiele auch gerne mal schwere Kost, bin allerdings weg von den pervy narrativist Story Games und verwende für meine Drama-Runden eher sehr freie Systeme wie Fate, Dread oder The Pool. Die sind dann, um die Analogie tot zu reiten, weder feministische Pornos, noch Mainstream, sondern etwas anderes (rule 34).
Niemand hat ja belastbare Zahlen, ich stelle aber die These in den Raum, dass die meisten Rollenspieler einfach nur der Wirklichkeit entfliehen und mit ihren Freunden Abenteuer erleben wollen, wenn sie sich an den Spieltisch setzen. Sie wollen sich nicht mit den Problemen der Welt beschäftigen und erst recht keine Lektion erteilt bekommen, und das ist auch völlig okay. Wenn diese These stimmt, sollten wir meines Erachtens Beispiele suchen, die in diesem Rahmen Diversität und Inklusivität fördern, auf unterhaltsame und zugleich natürliche, glaubwürdige Art und Weise.
3. Wie könnte ein anarchistisches Abenteuermodul aussehen?
Lasst uns zuerst ein paar Dinge aus dem Weg räumen. Erstens, wenn hierarchisches Gedankengut in Frage gestellt werden soll, dann ist die Antithese dazu Anarchismus. Wer bei Anarchismus nur an Bombenleger und Propaganda der Tat denkt oder gar der Meinung ist, Anarchismus bedeute das Recht des Stärkeren, dem sei zur Lektüre das großartige The Dispossessed von der wunderbaren Ursula K. LeGuin anempfohlen. Ich selber habe erst durch dieses Buch wirklich verstanden, wie sie denn aussehen könnte, die anarchistische Utopie, einschließlich ihrer Grenzen, Schwächen und Unvollkommenheiten.
Zweitens, das passende Gegenstück zu einem Story Game ist im Kontext von D&D ein Abenteuermodul, und nicht das Regelwerk selbst. Sowohl was den Umfang, als auch was die vorgenommenen Setzungen innerhalb der Fiktion, als auch was die damit verbrachte reale Spielzeit angeht, ist diese Entsprechung viel eher passend. Das Regelwerk und das Spielprinzip selbst grundsätzlich in Frage zu stellen, erscheint mir in bezug auf D&D weniger zielführend. Ich habe dies auch auf Facebook mit den Machern von Roll Inclusive diskutiert, und mir wurde auf Nachfrage ausdrücklich bestätigt, dass dies nicht die Intention sei. Damit ist klar, dass taktische und strategische Herausforderungen, die Erforschung unbekannter Gebiete und Gewölbe und auch das Anhäufen von Beute fester Bestandteil des Spiels sind. Die Frage ist nur, was sind die Quellen von Antagonismus und Beute in einem nicht-hierarchischen Setting.
Drittens, ich bin kein D&D-Experte und habe auch nie behauptet, einer zu sein. Ich habe mich in den letzten Monaten aufgrund des medialen Hypes, den ich schon ziemlich cool finde, verstärkt mit D&D5 beschäftigt, mit Critical Role und anderen Streams und auch mit dem Regelwerk. Geleitet habe ich es bisher nicht, nur gespielt, was sich aber hoffentlich sehr bald ändern wird. Ich besitze Red-Box-D&D und AD&D 2E und habe sie seinerzeit gelesen und gespielt, allerdings nicht sehr intensiv gespielt. Die dazwischen liegenden Editionen kenne ich nur aus Proberunden. Ich finde die 5E aus verschiedenen Gründen sehr beachtlich, deren Aufzählung hier den Rahmen sprengen würden, und ich kam nicht umhin zu bemerken, dass D&D und allgemein Abenteuerrollenspiel bei Roll Inclusive einen weitgehend blinden Fleck darstellen, daher möchte ich hier versuchen, diese Lücke zu füllen.
Nach dieser Vorrede: Wie also könnte ein anarchistisches Modul aussehen? Inspiration liefert mir ein Buch, das ich gerade lese: The art of not being governed von James C. Scott. Scott beschäftigt sich insbesondere mit der Geschichte Südostasiens. Dabei geht er zunächst auf die vormodernen Staaten, die Reichweite ihrer Macht und ihre Interaktion mit dem, was er als staatsfreie Räume (state-less space) bezeichnet, ein. Sodann stellt er die Lebensweise der Menschen in den staatsfreien Räumen, der Hügelbewohner (hill people), dar, einschließlich Handelsbeziehungen zu den Talstaaten (valley states), teilweise auch Tributzahlungen. Er spekuliert sodann, dass die Lebensweise der Hügelbewohner – flexibel, mobil, vergleichsweise egalitär, mit großer ethnischer Vielfalt und fluider Identität – nicht bloß ein vorstaatlicher Zustand ist, weil die Zivilisation die Hügel noch nicht erreicht hat, sondern dass diese Lebensweise vielmehr in direkter Wechselbeziehung zur Entstehung der Talstaaten steht und gezielt darauf ausgerichtet ist, sich dem Zugriff der Staaten zu entziehen. Weiter spekuliert er, dass es zu jeder Zeit viele Menschen gab, die sich der Staatsgewalt mit all ihren Folgen (Steuern, Zwangsarbeit, Militärdienst, Epidemien in den dicht besiedelten Räumen) entzogen, indem sie in die Hügel flohen. Ebenso gab es auch gegenläufige Migration, wenn ein besonders erfolgreicher Staat mit Nahrungsüberschuss, Frieden und spiritueller Blüte lockte.
Scott legt dies insbesondere anhand der geographischen, demographischen und politischen Gegebenheiten in Südostasien dar. Und es könnte ja durchaus eine schöne Abwechslung sein, dies auch für ein Fantasy-Modul aufzugreifen und Abenteuer in einem Gebiet zu erleben, das dem Mekong ähnelte, komplett mit Reisfeldern und Bewässerungsanlagen, Elefanten, Dschungeln, Sümpfen und Mangroven, Monsunregen, Malaria und allem, was das Monster Manual an ostasiatisch angehauchten Ungeheuern zu bieten hat (zum Thema kulturelle Aneignung siehe hier). Wem das auf Dauer zu exotisch ist, der braucht nicht weit zu schauen: Scott verweist auf ähnliche Verhältnisse im feudalistischen Europa, z.B. noch im 17. Jahrhundert im sogenannten “outlaw corridor” im heutigen Deutschland, der unter anderem vielen Sinti und Roma als Zuflucht diente. Wenn ich es richtig verstehe, handelt es sich dabei etwa um das Gebiet vom Thüringer Wald bis zum Bayerischen Wald.
Die Charaktere wären in einem solchen Fall selbst Gesetzlose, die vor dem hierarchischen Staat in die Hügel fliehen. Gute und böse Völker gäbe es hier nicht per se (kein postkoloniales Weltbild: check), die Staaten der Menschen, Elfen und Zwerge wären ihres klassischen, geschichtsrevisionistischen Narrativs des weisen Herrschers und der gerechten, gottgewollten Ordnung beraubt (was auch ein bisschen feministischer Porno ist, schon klar). Sie wären, mit anderen Worten, fiese, expansive Sklavenhalterregime, deren Hauptziel es ist, wie auch Scott anhand diverser Quellen darlegt, möglichst viele arbeits- und waffenfähige Personen unter ihre Kontrolle zu bringen. Nicht Macht über Territorium, sondern Macht über Personen ist hier die ausschlaggebende Motivation und das, was einen erfolgreichen Staat auszeichnet. Sklaverei ist die ganz logischen Folge. Damit haben wir auch gleich eine Quelle von Antagonismus.
Jetzt könnte man natürlich noch politischer werden und sagen, das ist alles eine Systemfrage und die Leute, die der ausführende Arm des Systems sind, trifft keine Schuld, die sind auch nur Opfer. Auf diesem Weg kommt man ganz schnell in Kobayashi-Maru-Daenerys-in-Mereen-Situationen, was nicht förderlich ist, wenn man der Wirklichkeit entfliehen und mit Freunden Abenteuer erleben möchte. Daher sollte es durchaus erlaubt sein, den propagandistischen Spieß umzudrehen und ein eigenes, anti-hierarchisches, grob vereinfachendes Narrativ zu entwickeln. Die Talstaaten (es könnte natürlich auch ein Underdark-Staat dabei sein) haben, das ist wichtig, keine echte Kontrolle über die Hügel. Sie können größere Militärkontingente hier nicht versorgen. Wohl aber können sie kleinere Banden schicken, die sich durch Plünderung selbst versorgen und Sklaven jagen. Und für die Charaktere finden sich umgekehrt sicher viele Gründe, Covert Ops in den Tälern und den Garnisonen der Staatsgewalt durchzuführen.
In den Hügeln treffen die Charaktere auf die Hügelbewohner. Diese sind nicht nur die Leute, die hier schon immer lebten, sondern die meisten von ihnen sind vor dem Zugriff der Talstaaten geflohen. So können Goblins, die vor dem Bugbear-König und seinen Hobgoblin-Henchmen weggelaufen sind, mit Menschen, Zwergen und Elfen zusammen leben. Tieflinge, die ja quasi die Sinti und Roma von D&D sind, wird man wahrscheinlich in überproportional hoher Zahl finden. Scott weist darauf hin, dass in den Bergen Südostasiens und Südchinas verwandte Gruppen sich nicht über ein zusammenhängendes Territorium ausbreiten, sondern auf bestimmten Höhenmetern zu finden sind, das übernehmen wir gerne. Statt einer klassischen Frontier Town als Home Base haben wir es mit halbnomadischen Gruppen zu tun, die über ein heterogenes, komplexes und fluides Sozialgefüge verfügen. Und wo wir gerade dabei sind, herrscht natürlich Gleichberechtigung der Geschlechter, und auch wenn es keine Anführer im eigentlichen Sinne gibt, sind viele der einflussreichen und angesehenen NSCs Frauen (kein patriarchales Weltbild: check). Neben action-orientierten Abenteuern können soziale und politische Abenteuer eine wesentliche Rolle spielen, wenn es darum geht, das fragile Gleichgewicht der in den Hügeln lebenden Gruppen zu wahren, den Versuch einer gewaltsam-hierarchischen Machtergreifung zu verhindern oder auch innerhalb einer egalitären, nicht-hierarchischen Gemeinschaft Einigkeit über wichtige Fragen zu erzielen.
Natürlich braucht man für D&D Dungeons, und wenn auch der gelegentliche Vorposten eines Talstaates oder das Höhlensystem, in dem der Möchtegern-Hügeldespot mit seinen Schlägertrupps Unterschlupf gefunden hat, den Zweck erfüllen, ist doch nichts so schön wie alte Ruinen und Grabmäler. Hier nun stößt die realweltliche Inspiration an Grenzen, da solche zivilisatorischen Hinterlassenschaften eigentlich im Widerspruch zu den geographischen Verhältnissen stehen, die ja gerade das Bestehen der anarchistischen Hügelgesellschaft ermöglichen. Doch da können wir in D&D nonchalant die Zauber-Karte ziehen: Vor Jahrhunderten hat es eben eine Zivilisation gegeben, die über so mächtige Magie verfügte, dass sie dadurch das logistische Problem lösen und die Hügel unterjochen konnte, ebenso wie es in Südostasien heute mithilfe moderner Technologie geschieht. Natürlich ist diese alte Zivilisation längst untergegangen. Aber ihre Ruinen geben sicherlich alles her, was des Dungeon Masters Herz begehrt. Und wenn man sich für das südostasiatische Flair entscheidet, hat man mit Angkor Wat auch gleich ein starkes Bild vor Augen.