Hinter der Maskerade

Man mag sich eifrig über Teenage Angst, Emo-Geheule und den Dot in Rein(dot)Hagen lustig machen, doch Vampire: the Masquerade hat das Hobby verändert wie wohl selten ein Rollenspiel. Für mich war die 1st Edition 1991 eine Offenbarung, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Vampire war nach Star Wars d6 das zweite Rollenspiel, das mich maßgeblich geprägt hat. Ich habe die Maskerade (im Wesentlichen mit dem Grunderegelwerk) in einer Chronik im wilhelminischen Deutschland geleitet, und sehr lange in einer Dark-Ages-Runde mitgespielt, sowie in einer kurzlebigen, aber sehr intensiven Sabbat-Runde. Heute möchte ich mich an einer Betrachtung versuchen, was den Kern von Vampire: the Masquerade ausmacht.

Opulentes Spiel

Die Ästhetik von Vampire vermittelte sofort eine ganz andere Stimmung, als ich sie von anderen Rollenspielbüchern kannte. Da war zum einen die optische Gestaltung, insbesondere das Cover und die vollseitigen Schwarz-Weiß-Illustrationen. Dann die Einführung in Form eines Briefes, den ein gewisser V.T. an eine gewisse M.H. schreibt. Und natürlich wusste der geneigte Leser, wofür diese Initialen standen. Dann die ganzen Zitate, von John Milton bis Indigo Girls. Die evokativen Überschriften (The Becoming, The Hunger, The Riddle, Streets of Blood, Nature Red in Tooth and Claw). Worte wie Kindred, Progeny, Antediluvian. Das artikulierte Selbstverständnis, Kunst zu sein. Natürlich nahm sich das alles sehr ernst und natürlich war es leicht, sich darüber lustig zu machen, es war ja geradezu eine Steilvorlage. Dadurch war es aber auch mutig, und konnte neue Zielgruppen erschließen. Und andererseits gleich diejenigen aussortieren, die nicht Zielgruppe waren. Kerzen auf dem Spieltisch, Nicholas Lens im Hintergrund, Single Malt Whisky im Glas, das war bei uns die logische Fortführung dieser Opulenz. Vampire nahm sich selbst ernst, deshalb nahmen wir es ernst, und deshalb vermochte es uns in einer Weise in Ehrfurcht zu versetzen, wie es die Rollenspiele davor nicht vermocht hatten.

Introvertiertes Spiel

Der definierende innere Konflikt zwischen Mensch und Bestie ist sowohl in den Fluff-Texten, als auch in den Regeln (Humanity, Virtues, Willpower, Blood Pool, Frenzy) fest verankert. Hinzu kommen die Archetypen, Nature und Demeanor, die in der Kombination hervorragend funktionieren, um die Persönlichkeit eines Charakters zu beschreiben. Diese interagiert dann mit äußeren Erwartungen, die sich aus dem Clan und möglicherweise der Zugehörigkeit zu einer Partei im Streit zwischen Anarchs und Elders ergeben, und natürlich dem inneren Konflikt selbst. Zusammen mit der bereits beschriebenen Opulenz lädt dies dazu ein, sich mit dem Innenleben des Charakters zu beschäftigen, für sich allein, im Dialog mit dem Storyteller (z.B. im Prelude, den man one-on-one spielte) und natürlich auch während des Spiels, im Dialog mit anderen Figuren. Nie vorher war es im Detail so wichtig gewesen, was in einem Charakter vorging. Und dies war nicht statisch, es war potentiell äußerst dynamisch.

Soziales Spiel

In Vampire dreht sich alles um die Beziehungen der SCs zu den anderen Figuren des Chronicle, um die Interaktion mit diesen, die Entwicklung dieser Beziehungen und die Ergründung ihrer Geheimnisse. In den Regeln ist die soziale Dimension des Spiels zum einen durch Backgrounds wie Retainers, Herd, Mentor, Allies oder Contacts verankert, und zum anderen durch die vielen sozialen Attribute und Skills, die als einer von drei Pfeilern gleichberechtigt neben körperlichen und mentalen Werten standen, sowie die wichtigen Disciplines mit sozialem Einschlag (Presence, Dominate, Auspex). Die im Grundregelwerk präsentierte Beispielchronik besteht ganz wesentlich aus der Beschreibung der NSCs und möglicher Anknüpfungspunkte für Beziehungen zu den SCs, und das Beispielabenteuer ist eigentlich nur eine Party, auf der alle anwesend sind, auf der ein bisschen Exposition betrieben wird und ansonsten jede Menge Anregungen für mögliche soziale Interaktion gegeben werden. Es wird sogar angeregt, dies wenn möglich in Live Action auszuspielen. Aber es geht dabei nicht nur um Nabelschau, die NSCs wollen auch etwas, der Prince (der auf Deutsch übrigens Fürst heißen müsste) versucht z.B., die unerfahrenen SCs dazu zu bringen, ihm ihre Zuflucht zu verraten. Ebenso besteht auch die Möglichkeit romantischer Verwicklungen, und auch das empfand ich damals als Offenbarung, ganz ernsthaft und ohne Schmuh eine Liebesgeschichte spielen zu können.

Exploratives Spiel

Ich habe nie so richtig verstanden, wieso Vampire später für Railroading verschrien war. Die Publikationen, die dafür wohl verantwortlich sind, kenne ich nicht, Vampire 1st Edition ist davon so weit entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Das Beispiel-Szenario ist sehr offen und gibt nur Anregungen, fordert den Storyteller explizit auf, mit dem zu gehen, was die Spieler machen wollen. Der Artikel “The Art of Storytelling” von (dot)Hagen himself im Storyteller’s Guide ist ein flammendes Plädoyer gegen Railroading (“Be the guide, not the path.”) Vampire ist auch nicht oberflächlich, szenisch, cinematisch. Es ist durchaus kleinteilig und beschäftigt sich, auch regeltechnisch, mit der Frage, wie ein Vampir eigentlich so klarkommt. Er braucht Blut, muss der Sonne und Entdeckung aus dem Weg gehen, sich an die Traditionen halten oder mit den Konsequenzen leben, braucht eine Zuflucht, Geld, ggf. sterbliche Retainers usw. Wo kriegt er das alles her, wie stellt er das an, und wie verwundbar ist er, wenn seine Artgenossen es auf ihn abgesehen haben? Mit wem stellt er sich gut, wem schuldet er einen Gefallen, wen macht er sich zum Feind? Welche Geheimnisse kennt er, wessen Vertrauen genießt er, wer sieht ihn als Bedrohung? Das Grundregelwerk nennt eine ganze Reihe von möglichen Chronicle-Konzepten, aber der Standardfall ist ganz klar die sesshafte Gruppe in einer gegebenen Stadt, die sich dort einzurichten versucht und dann ihre eigenen Ziele verfolgt bzw. in größere, politische Konflikte hineingezogen wird. Und das Setting liefert hierfür die Bausteine, die Clans, Sekten, Traditionen, Generationen, Konflikte. Heute würde man wohl “soziale Sandbox” dazu sagen. Contantinople by Night für Dark Ages, das den Schwerpunkt unserer damaligen Chronik bildete, ist das perfekte Beispiel.

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