Fehlwahrnehmungen über erzählerisches Rollenspiel

In meinem letzten Beitrag habe ich erklärt, was ich unter erzählerischem Rollenspiel verstehe. Nicht jeder ist ein Fan davon, und über Geschmäcker lässt sich bekanntlich nicht streiten. Dennoch möchte ich heute versuchen, mit ein paar Fehlwahrnehmungen aufzuräumen.

Wenn nicht gewürfelt wird, ist es auch nicht spannend

Im erzählerischen Rollenspiel gibt es oft Situationen, die gelöst werden, ohne dass es zu einem Würfelwurf kommt. “Roleplaying statt Roll-Playing”, war mal ein Slogan. “Wo bleibt denn da die Spannung?” höre ich oft. Allerdings: Rein verhandelte, im Gegensatz zu durch Zufallselement ermittelte, Ergebnisse gibt es nicht nur in erzählerischen Runden. In Runden, die den Schwerpunkt auf Simulation legen, ist z.B. kein Wurf für den Erfolg erforderlich, wenn die Vorgehensweise des Charakters so gut geplant ist, dass sie vernünftigerweise nicht scheitern kann. In der erzählerischen Runde wird hingegen oft dann auf das Zufallselement verzichtet, wenn eine bestimmte Wendung einfach dramaturgisch so schön „passt“, dass alle am Tisch sie wollen. Wobei das nicht schematisch zu verstehen ist, die meisten erzählerischen Runden spielen ja nicht würfelfrei, sondern würfelarm.

Manche haben nun aber die Vorstellung, wenn es keine Würfel gibt, dann ist doch eh schon klar, wie es ausgeht, und wir erzählen es nur so runter – wo ich mich dann eher frage, auf welchem Planeten die leben. Alter, wir verhandeln das doch, wir spielen das doch, ich weiß vielleicht selber noch nicht mal, wie mein Charakter reagieren wird, ich warte drauf, was der SL vielleicht noch für Geheimnisse enthüllt, ich warte drauf, was meine Mitspieler sich einfallen lassen, oft ist es ein IC-Dialog, an dem alles hängt, das spielen wir doch in wörtlicher Rede, da muss ich die richtigen Worte finden, die richtige Darstellung finden, und dann sind da noch andere dabei, die sich einmischen, das ist doch die Königsdisziplin! Wir sind dann vier, fünf, sechs Leute, alle sind involviert, alle reden durcheinander, alles ist wichtig, alles fließt zusammen, mal Push, mal Pull, wie ein Tanz, wie kann man denn denken, dass das langweilig, nicht spannend, nicht überraschend sei, nur weil vielleicht nicht gewürfelt wird?

Wenn man nicht sterben oder ernsthaft scheitern kann, geht es doch um nichts

Viele erzählerische Systeme machen es beinahe unmöglich, dass Charaktere sterben. Und viele erzählerische Abenteuer sind so angelegt, dass ein ernsthaftes Scheitern kaum denkbar ist. Das bedeutet aber nicht, dass es um nichts geht. Sondern es bedeutet nur, dass es um etwas anderes geht, als ums Überleben und den Erfolg der Mission. Worum genau, das kann sich von Gruppe zu Gruppe und Abenteuer zu Abenteuer unterscheiden. Hier ein paar Möglichkeiten:

  • Ballspiel: Wir spielen nicht gegeneinander, sondern werfen uns die Bälle gegenseitig zu, und wenn man es richtig gut macht, kann das schon richtige Flow-Erlebnisse bescheren.
  • Bonuspunkte: Auch wenn der Ausgang eines Kampfes nicht wirklich in Frage steht – welcher Charakter der Held des Tages ist und wer der Depp, das kann durchaus erwürfelt und eingewoben werden und das ist auch nicht egal, nur weil es am Ausgang nichts ändert, denn im erzählerischen Rollenspiel ist der Weg das Ziel.
  • Überraschende Wendung: Im erzählerischen Rollenspiel werden Überraschungen seltener durch Würfelergebnisse, und häufiger durch die spontane Idee eines Mitspielers oder die Enthüllung eines SL-Geheimnisses herbeigeführt, aber das ändert nichts daran, dass solche Wendungen, mit denen keiner gerechnet hat, Wow-Momente sind.
  • Abfeiern: Wir feiern das Setting, das Quellenmaterial und/oder die Charaktere als obercoole Arschtreter ab.
  • Moral: Du wirst vor ein moralisches Dilemma gestellt, das am Besten auch noch auf deinen Charakterhintergrund maßgeschneidert ist, wie entscheidest du dich, was sind die Konsequenzen, und was macht das mit dir?
  • Konflikt zwischen Spielern: Wir spielen nicht gegeneinander – außer wenn wir es tun. Sei es die freundschaftliche Rivalität zwischen zwei Charakteren, das Konkurrieren um Macht, Geld oder Liebe, oder in einem One-Shot auch mal die ausgewachsene Shakespeare-eske Tragödie, wo am Ende alle tot sind.
  • Emotion: Erzählerisches Rollenspiel gibt dir die Möglichkeit, dich gezielt in Situationen zu manövrieren (oder manövrieren zu lassen), die du emotional spannend findest. Und wenn die Sterne günstig stehen und dir gegeben ist, dich fallen zu lassen, und du Mitspieler hast, die dich dann tragen… das kann schon sehr intensiv werden. Ich habe mal eine Runde gehabt, in der drei von fünf Leuten am Tisch mal kurz die Stimme versagte, Pipi in den Augen hatten wir eh alle.

Erzählerische SLs sind Tyrannen

Dies ist leider keine komplette Fehlwahrnehmung. Erzählerisches Rollenspiel funktioniert viel besser ohne sie, doch es gibt sie, die Railroader und Spielerkleinhalter. Viele SL-Kapitel, vor allem in den 90ern, haben diese fixe Idee, Drama bzw. eine “gute Geschichte” könne nur mit einem dominanten SL funktionieren, gepredigt. Dies ist einer der ärgerlichsten und am schwersten totzukriegenden Irrtümer in der Geschichte unseres Hobbys. Zugrunde liegt ein ganzer Sumpf von Missverständnissen, das größte aller Missverständnisse aber ist dieses: “Die Spieler sind die Feinde des Dramas. Wenn man den Spielern ihren Willen lässt, machen sie alles kaputt. Deswegen braucht man den SL, um die Spieler unter Kontrolle zu halten.”

Was für ein absurder Gedanke! Wenn die Spieler kein Drama wollen, warum sollte man es ihnen dann aufnötigen? Wer hätte denn etwas davon? Und warum wollen die Spieler das Drama nicht? Kann natürlich sein, dass es einfach nicht ihr Ding ist, aber vielleicht ist es schon ihr Ding, nur eben nicht so, wie der SL es macht. All diese traurigen Negativbeispiele beruhen im Wesentlichen darauf, dass also der SL den Spielern nicht zutraut, eine “gute Geschichte” zu spielen, und die Spieler dem SL dasselbe ebenso wenig zutrauen. Und manchmal vielleicht sogar zu Recht.

Wenn du hingegen Mitspieler hast, die ein gutes dramaturgisches Gespür haben, die kreativ und auf einer Wellenlänge sind, die bereit sind, einander zu vertrauen und Kontrolle abzugeben, dann ergibt sich alles Weitere von selbst. Dann hängt es von den Erfordernissen der Handlung ab, wer wie dominant ist. Es gibt spielergetriebenes Drama, hier verfolgen die SCs eigene Ziele und fechten ihre eigenen Konflikte aus. Und es gibt SL-getriebenes Drama, bei dem NSCs und äußere Umstände eine wichtige Rolle spielen. Vielleicht hat der SL eine relativ klare Vorstellung davon, was die SCs wohl unternehmen und wie alles ausgeht, und vielleicht kommt es dann ganz anders. Oder es kommt genau so, weil die Spieler dabei mitziehen, aber der SL muss die Spieler dafür begeistern, und er muss die Ideen und Beiträge der Spieler so aufnehmen, dass sie sich in das Drama einfügen, dass sie ein Bestandteil davon werden, und nicht bloß an der vom SL inszenierten Handlung abperlen. In beiden Varianten ist es nicht nur möglich, sondern erstrebenswert, dass der SL den Spielern Raum lässt und ihnen auf Augenhöhe begegnet.

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